Terror – und wie denkt der Westen?
Ethnologische Überlegungen zum Weltbild westlicher Politiker
von Christiana Lütkes

Die Terroranschläge vom 11. September haben das Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit des Westens erschüttert, und viele Aussagen, die insbesondere in der ersten Zeit danach fielen, zeigen einen verzweifelten Versuch, dieses Gefühl wieder herzustellen. Fast schon gebetsmühlenartig beruft man sich auf die „Zivilisation“: George W. Bush interpretiert die Anschläge als einen Krieg gegen die Moderne, Bundeskanzler Schröder konstatiert einen Angriff auf die gesamte zivilisierte Welt, Gregor Gysi sieht islamische Länder als noch im Mittelalter verhaftet an und Berlusconi beschwört in Italien die Überlegenheit der westlichen Welt über den Islam.

Sicher geht es den Rednern mit diesen Aussagen auch darum, sich von Terror und Terroristen zu distanzieren, doch offenbaren ihre Formulierungen darüber hinaus Einiges über ihre generellen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen den Kulturen. Auf diese allgemeinen Ansichten beziehen sich die folgenden Überlegungen, bei denen es nicht darum geht, menschenverachtendes Vorgehen einiger Gruppierungen in Afghanistan oder anderswo zu rechtfertigen, sondern Denkstrukturen deutlich zu machen, die ein wirkliches Verständnis anderer Kulturen im allgemeinen verhindern.

Allein die vier hier wiedergegebenen Aussagen offenbaren Denkmuster, die eine tiefe Verwurzelung in Vorstellungen von einer stufenweisen Entwicklung der Kulturen zeigen. Dieses Schema wurde in Anlehnung an Darwins Evolutionstheorie von Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert entwickelt, gilt aber in der Ethnologie seit 70 Jahren als überholt. Grundgedanke des Evolutionismus ist, dass sich alle Kulturen nach einem im Wesentlichen gleichen Schema entwickeln: Dem Stadium der Wildheit folgt die Barbarei, und auf der höchsten Stufe der Entwicklung schließlich steht die Zivilisation. Jeder Stufe wurden bestimmte Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zugeordnet, die man ebenfalls in einer Reihe der Entwicklung sah: In der Wirtschaft folgt dem Sammler- und Jägertum der Bodenbau, anschließend die Industrie, auf dem geistigen Gebiet sah man die Magie als Vorstufe der Religion, gefolgt von der Wissenschaft.

Diese Vorstellungen sind von der Ethnologie längst in Zweifel gezogen worden (ohne dass man jedoch einer Kultur abspricht, sich zu verändern und damit eine Entwicklung zu zeigen). Zum einen gibt es zahlreiche Beispiele, die beweisen, dass die Entwicklung nicht notwendigerweise entlang der in dem Schema vorgegebenen Richtung läuft. Zum anderen ist vor allem die in evolutionistischen Werken enthaltene Wertung kritisiert worden, wonach das weiter Entwickelte auch das Bessere und Leistungsfähigere ist. Längst hat sich herausgestellt, dass die von uns für „primitiv“ gehaltenen Kulturen oft äußert differenzierte Sprachen und überaus komplexe Sozialstrukturen haben. Ebenso stellt sich die Frage, ob die Industrialisierung tatsächlich ein überlebensfähiges Modell für die Zukunft liefert oder ob diese nicht eher in traditionellen Lebensweisen liegt. Tatsache ist, dass die Einteilung der Welt nicht so simpel ist wie oft angenommen.

Während man in der Ethnologie insbesondere den im Evolutionismus enthaltenen Wertungen gegenüber inzwischen äußerst kritisch eingestellt ist, lebt dessen Grundgedanke in den Köpfen der Bevölkerung weiter. Politikeraussagen, Medienberichte, Schulbücher und alltägliche Gespräche wimmeln von Aussagen, die die Stufentheorie widerspiegeln. Dabei hat sich sozusagen ein „Volksmodell“ des Evolutionismus durchgesetzt, bei dem gerade die Wertung eine große Rolle spielt: Unsere eigene Kultur, die Kultur des Westens, entspricht der „Zivilisation“ und ist daher die bessere; andere Kulturen haben unsere Stufe noch nicht erreicht und sind „unterentwickelt“. Was diese betrifft, so geht man im Allgemeinen davon aus, dass sie sich nichts dringender wünschen, als unseren Stand der Entwicklung zu erreichen, doch gibt es immer wieder Gruppierungen, die – lästigerweise - im „Mittelalter verhaftet“ bleiben und „auf ihren Traditionen beharren“.

In alltäglichen Gesprächen weisen zahlreiche Wortwendungen auf das evolutionistische Modell in den Köpfen hin, auch wenn es kaum jemandem wirklich bewusst ist. Allein das kleine Wörtchen „noch“ ist ein Indiz dafür: In Anatolien hat man noch keinen Strom, in Afghanistan lebt man noch wie im letzten Jahrhundert – als handele es sich um einen Anachronismus, der längst verschwunden sein müsste, statt einfach nur um eine andere Lebensweise.

Evolutionistische Vorstellungen ziehen sich durch das gesamte Bildungssystem und werden täglich in der Schule an Kinder und Jugendliche weitergegeben – zum Teil ohne böse Absicht und durchaus nicht von fremdenfeindlich eingestellten Lehrern oder Schulbuchautoren. So z.B. folgender wahrscheinlich sogar gutgemeinte Abschnitt in einem Erdkundebuch von 1982 – das allerdings auch noch Ende der 90er Jahre verwendet wurde:

„Die Kulturstufen sind wie eine Treppe: auf den Stufen die Menschheit stehend oder steigend. Ganz oben thronen wir. Unsere Kultur erscheint als Vorbild für die Entwicklung der anderen Kulturen. Das sieht so einfach aus. Die Wirklichkeit ist viel schwieriger: das Hinaufsteigen auf eine höhere Kulturstufe, das Übernehmen einer anderen Kultur, das Aufgeben der eigenen Kultur. Wer mit dem Kulturstufen-Schema gearbeitet hat, der hat begriffen, daß Menschen kulturell aufsteigen können. Der gibt auch jenen Menschen eine Chance, die heute noch nicht auf unserer Stufe stehen.“ (Terra B 1982:244)

Problematischer noch als derartige Aussagen sind die Bedeutungszuweisungen und Wertungen, die man den evolutionistischen Vorstellungen so zusagen gedanklich anhängt: Kulturen, die keine moderne technische Entwicklung wie wir haben, sind offensichtlich nicht in der Lage, eine derartige Leistung zu erbringen, wie wir es geschafft haben - also sind wir ihnen überlegen. Die Tatsache, dass auch eine überlegte Weigerung auf der Basis eines anderen Wertesystem der Grund dafür sein könnte, wird gar nicht erst in Betracht gezogen.

Im ständigen Bezug auf den technischen Standard kommt eine Wertsetzung ins Spiel, die stark ethnozentrisch, also von eigenen Maßstäben bestimmt ist: Technik wird als so zentral und wichtig angesehen, dass sie zum Indikator auch für die geistige Leistung einer Kultur gerät. Den Schwerpunkt auf die technischen Standard setzen aber nicht alle Menschen: Dieser kann in manchen Gesellschaften durchaus eine untergeordnete Rolle spielen, stattdessen stehen vielleicht die sozialen Beziehungen im Mittelpunkt. So sehen Bevölkerungsgruppen, die hier landläufig als ‚primitiv’ oder ‚noch nicht so weit’ bezeichnet werden, die westlichen Industrienationen häufig als unterentwickelt an, weil sie vergleichsweise arme soziale Beziehungen aufweisen – eine Armut, die in kleinen Familien sowie in der Existenz von Alten- und Kinderheimen festgemacht wird. Die Betonung technischer Leistungen, wie sie hierzulande üblich ist, wird eher als Beweis für eine recht unsoziale und damit primitive Prioritätensetzung gesehen denn als Verdienst.

Auch Bush, Schröder, Gysi und Berlusconi zeigen, wie sehr sie dem Evolutionismus verhaftet sind. Berlusconis angenommene Überlegenheit der westlichen Welt drückt die Abwertung anderer Kulturen noch am direktesten aus. Die Verwendung der Begriffe Moderne und Zivilisation enthalten dagegen subtilere Wertungen, offenbaren aber dasselbe Weltbild. Bush hält seinen eigenen Teil der Welt (und besonderes die USA) für die Moderne, was bedeutet, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die dort „noch“ nicht angekommen und „überholt“ und daher „nicht gut“ sind. Alle lebenden Menschen der Erde existieren jedoch zum gleichen Zeitpunkt, wer entscheidet darüber, wer von ihnen modern ist und anhand wessen Kriterien wird entschieden? Gleiches gilt für Schröders zivilisierte Welt. Worin besteht bei ihm die Zivilisation? Man könnte fragen, ob sich Moderne und Zivilisation darin zeigen, dass man keinen Mord verübt und keinen Krieg führt. Dann aber dürfte es wohl nirgends Zivilisation auf der Welt geben.

Selbst wenn Schröder und Bush mit ihrem Ausschluss aus der besseren Hälfte der Welt nicht den Islam an sich, sondern lediglich die radikalen Islamisten meinen sollten, wie sie ja selbst wiederholt anmerkten, so sind ihre Aussagen alles andere als harmlos. Das Gefährliche liegt vor allem darin, dass eine Verallgemeinerung von ihren Zuhörern vorgenommen wird, die Terror und Islam nicht unterscheiden mögen. Dass dies so geschieht, ist an vermehrten Diskriminierungen von muslimischen Bürgern zu spüren. Die Ausdrucksweise der Politiker zementiert das evolutionistische Denken, es bestärkt das Überlegenheitsgefühl von Mitgliedern der westlichen Welt und vertieft damit die Kluft zwischen „uns“ und den „anderen“. Sie verstärkt eine Gefahr, die wir uns gerade jetzt nicht leisten können.

Gerade in Krisenzeiten zeigt sich in Diskussionen und Ansprachen ein deutlicher Mangel an Differenzierung. Dabei ist es interessant herauszuarbeiten, auf welche Vorstellungen zurückgegriffen wird. Die Ethnologie kann dazu anregen, unser eigenes Bild von der Welt kritisch zu hinterfragen. EthnologInnen sind geschult darin, emische Modelle zu entdecken, also die Konzepte hinter den Äußerungen zu erfassen, und damit auch vorherzusagen, wie bestimmte Aussagen von Politikern von der Bevölkerung vermutlich weitergedacht werden. Sie können evolutionistisches Gedankengut deutlich machen, mit Beispielen widerlegen und entkräften, und dem Einzelnen bewusst machen, dass er die Modelle in ihren Köpfen überprüfen muss, um nicht weiterhin Vorurteile in die Welt zu setzen und zu bekräftigen. In diesem Sinne kann die Ethnologie sowohl zu einer besseren interkulturellen Verständigung beitragen und als auch zum besseren Verstehen der augenblicklichen Situation.

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