Auf der Suche nach neuer Bewegung

Die real existierenden Gewerkschaften sind nicht zu retten
von Mag Wompel
aus DA 163, Mai/Juni 2004, S. 6

Das Sommerloch 2003 war voll der Auseinandersetzung um die Rolle der Gewerkschaften in unserer Gesellschaft; Falls der Begriff der Auseinandersetzung zutreffend ist, wenn die Kapitalseite gegen den am Boden geglaubten Gegner schießt und dieser sich beeilt nachzuweisen, dass er in Wirklichkeit ungefährlich ist.
Als Beispiel hierfür haben die Gewerkschaftsführungen ihre tarifpolitische Flexibilität (bei der Aufweichung der Tarifverträge und zuletzt bei der überflüssigen Tarifierung der Leiharbeit) und sozialpolitische "Reformfähigkeit" (in Form aktiver Mitarbeit und angetäuschter Proteste bei Rente, Gesundheit, Hartz & Co) angeführt. Diese Punkte führen bei vielen Linken in und um die Gewerkschaften zu der Frage, welchen Sinn es noch macht, genau diese Gewerkschaften zu verteidigen. Besonders überzeugend bringen dies Vertreterinnen von Erwerbslosengruppen und aus sozialen Bewegungen vor, die gerade in letzter Zeit von den Gewerkschaften eher okkupiert und fürsorglich belagert als unterstützt wurden.
Die Patientin Gewerkschaft scheint immerhin noch nicht ganz tot. Eine solche Diagnose wäre angebracht, wenn sich der neoliberale Konsens eben nicht auf die Gewerkschafter eingeschossen hätte. Dies ist freilich weniger den Vorständen, als den unzähligen Ehrenamtlichen und Funktionärinnen vor Ort zu verdanken, die allen, teilweise auch innerorganisatorischen Widerständen zum Trotz gute gewerkschaftliche Arbeit zu leisten versuchen. Sie sind aber zu wenige und zudem immer häufiger frustriert und überfordert. Die Mitgliederzahlen schrumpfen und die mehr oder minder organisierte Linke in den Gewerkschaften zeigt sich als zu schwach. Die Lage ist also ernst, wobei die deutschen Gewerkschaften keinesfalls die ersten und auch nicht die einzigen sind, die weltweit in die Defensive gerieten. Krisen gelten allgemein als ein guter Zeitpunkt für Veränderungen, deshalb sollte auch diese aktuelle Krise der Gewerkschaftsbewegung genutzt werden. Dagegen gibt es zwar den Vorbehalt, der Angriff des Kapitals würde uns alle betreffen und es sei unsolidarisch, ausgerechnet jetzt die Gewerkschaften auch noch von links anzugreifen. Doch erstens wird diese Kritik von links nicht erst seit heute geübt und zweitens geht es darum, die Gewerkschaftsbewegung wiederzubeleben - wenn nicht gar zu retten. Da ist die Überlegung schon erlaubt, ob nicht genau dafür die Rettung der real existierenden Gewerkschaften unterbleiben sollte, denn die bestehenden Gewerkschaften sind nicht nur bürokratisch verkrustet, sondern über die viel gerühmte Mitbestimmung und Mitgestaltung fester Bestandteil unserer gesellschaftspolitischen Probleme. Dieser über Jahrzehnte vollzogene Werdegang zum Teil des Systems und damit des Problems wird nun von den Gewerkschaftsspitzen als überlebensnotwendige Modernisierung zu verkaufen versucht.

Bürokratische Verkrustung

Im Folgenden versuche ich zu begründen, dass wir in der Tat eine echte Modernisierung als Antwort auf den Druck des Kapitals und die Veränderungen in den Arbeits- und Lebensstrukturen brauchen, dass diese Antwort aber - und das ist die weitaus wichtigere These - die Modernisierung und Stärkung der Gewerkschaftsbewegung sein muss. Die Frage der Gewerkschaften wird sich m.E. dann so oder so fast von selbst lösen.
Viele, die momentan in Deutschland nach einer neuen Gewerkschaft (auch: Erwerbslosengewerkschaft) rufen, verkennen, dass das Problem nicht nur in der bürokratischen Verkrustung und politischen Einbindung der existierenden Gewerkschaften besteht. Sie verkennen, dass diejenigen, die die Gewerkschaft darstellen, nämlich ihre Mitglieder, sie so haben werden lassen. Es ist in der Tat nicht so, dass die Vorstände die Mitglieder an der Revolution hindern. Genauso richtig ist übrigens der ebenfalls oft vorgetragene Einwand, dass dies eben ein Ergebnis der unterbliebenen - oder besser gesagt: in die falsche Richtung betriebenen - politischen Bildungsarbeit sei.
Mit der Annahme, eine neue Gewerkschaft sei die einfachste Lösung, wird jedoch auch verkannt, dass die Scharen, die den Gewerkschaften davonlaufen, mehrheitlich keine potenziellen Mitglieder einer anderen, besseren Gewerkschaft sind. Würde das Realität, was die meisten derjenigen wollen, die laut auf die Vorstände fluchen, handelte es sich wohl kaum um mehr als um ein neues Abbild der alten Gewerkschaften. Andererseits gibt es eine Reihe konkreter Anforderungen an eine wirklich modernisierte Gewerkschaftsbewegung, und diese sollen nachfolgend aufgezeigt werden.

Selber machen statt Stammtischbeschwerden

Eine der wichtigsten Anforderungen: die Demokratisierung der Organisation selbst. Wer die Demokratisierung der Wirtschaft verlangt, darf seine eigene Organisation nicht straff bürokratisch und zentralistisch führen wollen. Dies bedeutet aber auch, dass alle Mitglieder die bequeme Haltung verlassen müssen, ihre Interessenvertretung delegieren zu wollen. "Aktivierung der Mitglieder" bedeutet bisher, sie nach Bedarf wieder deaktivieren zu können - gelingt es nicht, werden sie ausgeschlossen. Bei den meisten ist es unnötig, hören sie doch gern, wenn die Betriebsrätin oder der Funktionär sagt "Kollegin, ich regel das für dich". Tun sie's dann schlecht oder falsch, wird geschimpft - und auch das meist nur am Stammtisch. Demokratisierung bedeutet aber nicht nur Mitsprache. Es bedeutet die Aufgabe ernst zu nehmen, die Gewerkschaftsbewegung als eigenen, alltäglichen Auftrag zu begreifen. Wer auf diesem Wege lernt, die eigenen Interessen nicht wegdelegieren zu können, muss gar nicht erst aktiviert werden. Dann sind auch ganz andere, dezentrale und netzwerkförmige Organisationsformen möglich. Unterstützt werden muss dies einerseits durch offensive, an Gegenmacht orientierte Forderungen und andererseits durch neue Kampfformen, die den individuellen Fähigkeiten, Bereitschaften und Neigungen entgegenkommen. Unsere Kolleginnen z.B. in den USA und in Frankreich haben viele Beispiele für phantasievolle neue Aktions- und Streikformen erfolgreich erprobt. Ihr Vorteil ist, dass sie betroffene Kundinnen wie auch unbeteiligte Bevölkerung wenn nicht direkt einbeziehen, so doch solidarisch zu stimmen vermögen.
Kollektiver Schutz kann durchaus individuelle Lösungen beinhalten - er muss sich nur an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an denen der Betriebe orientieren. Am Beispiel neuer, indirekter Kontrollformen wie "Vertrauensarbeitszeit" hat sich spätestens gezeigt, dass solche Lösungen nicht in Stellvertretung entwickelt und kontrolliert werden können. Aktiven (nicht aktivierten) Gewerkschafterinnen kann dies zugetraut werden und sie lösen es solidarisch und gemeinsam, wenn sie überzeugt (nicht geführt) werden.
Es bleibt wahr: Allein machen sie dich ein! Aber kollektive Interessenvertretung muss nicht Vereinheitlichung bedeuten und Individualisierung nicht Vereinzelung. Individuelle Bedürfnisse selbstbewusster Gewerkschafterinnen dürfen nur nicht als Teufelszeug, sondern als ein emanzipatorischer Schritt in einer solidarischen Gemeinschaft begriffen werden - sonst kommt wirklich der um uns herum aufkeimende Egoismus zur Geltung.
Ein solch angewandter Respekt vor unterschiedlichen Lebensformen und (Nicht-)Arbeitspräferenzen würde zudem viele daran hindern, um der individuellen Flexibilität willen prekäre Jobs annehmen zu müssen und damit ungewollt Dumping an Löhnen und Arbeitsbedingungen zu betreiben. Denn heute sind es nicht nur Frauen, die zeigen, dass das so genannte "Normalarbeitsverhältnis" schon immer eine Norm der Minderheit war. Doch heute noch wundern sich männliche Funktionäre, wenn viele Lohnabhängige lieber Nachteile in Kauf nehmen, als den starren Schutz der Gewerkschaft zu genießen. Vor diesem Hintergrund ist es ein Anachronismus, wenn wir angesichts der viel beschworenen und noch häufiger erzwungenen beruflichen Flexibilität starre Branchengewerkschaften haben und eine direkte Mitgliedschaft im DGB oder auf europäischer Ebene im europäischen Gewerkschaftsbund möglich ist. Der beispielhafte, irrsinnige Streit zwischen IG Metall und Verdi bei IBM um die betriebliche Zuständigkeit ist keinesfalls einer um die bessere Interessenvertretung.

Weniger Arbeit, mehr Spaß und Muße

Wichtig ist auch die Akzeptanz der Tatsache, dass es die Vollarbeitsgesellschaft aus der Blütezeit der Gewerkschaften nicht mehr geben wird und der Normalarbeitnehmer schon immer eine Schimäre zu Lasten von Frauen war.
Es ist doch klasse, wenn das Kapital immer weniger Lohnarbeit braucht!
Eine Gewerkschaft, die sich mehr darum kümmert, uns alle "in Arbeit" zu bringen, als die gesellschaftlich notwendige Arbeit und Mittel so auf alle zu verteilen, dass alle an sinnvollen Tätigkeiten und möglichst hoher Lebensqualität teilhaben, stellt sich als ein Teil des Problems heraus!
Eine notwendige Grundsicherung ist die eine Sache, vor deren Akzeptanz, geschweige denn Durchsetzung die real existierenden Gewerkschaften weit entfernt sind. Die andere - momentan genauso schwierig erscheinend - ist eine drastische kollektive Arbeitszeitverkürzung. Sie ist aber für die breiten Massen, gebeutelt durch fremd gesteuerte Flexibilisierung disqualifiziert. Eine der aktuell vorrangigen Aufgaben einer wirklich modernen Gewerkschaftsbewegung besteht daher neben dem gedanklichen, wie faktischen Abschied vom Fetisch des Arbeitsethos und der Lohnarbeit in einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte über unsere Zeitverwendung: Arbeits- und Reproduktionsarbeitszeit, Geschlechterverhältnisse und Arbeitsteilung, Spaß und Muße, kurzum: über Lebensqualität für alle. Eine solche breite Bewegung für Lebensqualität schließt naturgemäß ihre nationale Borniertheit aus. Internationalisierung, nicht nur als Europäisierung, ist eine der grundlegenden Anforderungen nicht nur an die Gewerkschaften, auch an jede soziale Bewegung. Der Mobilität des Kapitals muss eine (freiwillige!) Mobilität der Menschen entgegengesetzt werden. Dazu gehören grenzübergreifender Austausch, internationale Solidarität und Streikformen, nicht Kampf gegen ausländische Billig-Arbeiterinnen, sondern ihre internationale Organisierung. Auch solidarische Absprachen und gemeinsame Bemühungen um internationale Arbeits- und Tarifstandards, sowie Unterlassung jeglichen Dumpings untereinander, geschuldet einer nationalen Wettbewerbsfähigkeit des "eigenen" Kapitals. Die Nutzung des Internets hilft dabei relativ einkommensunabhängig. Doch CyberUnionism bedeutet mehr, als dass Gewerkschaften ihre Pressemitteilungen über Tarifabschlüsse auf ihrer Homepage veröffentlichen. Es bedeutet, jegliche Kontrolle von Information und Kommunikation aufzugeben. Und schließlich bleibt die Frage, wer zu den Zielgruppen einer solchen Gewerkschaftsbewegung gehört. Die Antwort ist einfach: Alle Lohnabhängigen, egal ob sie einen vermeintlich sicheren Arbeitsplatz "haben", vorübergehend oder dauerhaft erwerbslos sind, bewusst oder erzwungen im Niedriglohnbereich jobben, etc.
Die Öffnung für Prekäre, Arme, Erwerbslose und Migrantinnen hat in den USA zu einer Wiederbelebung der Gewerkschaften geführt und gehört in Frankreich zu den Grundpfeilern der erfolgreichsten Neugründung der letzten Jahre, der SUD.
Das Kapital erzwingt nicht nur ungewollt diskontinuierliche Lebensläufe, die Lohnabhängigkeit hält uns durch zerrüttete soziale Sicherungssysteme und den immer länger werdenden Arm der Arbeit auch immer stärker in Atem. Wenn das Kapital immer mehr vom Menschen will, muss sich die Gewerkschaftsbewegung wieder stärker um den ganzen Menschen und seine Lebensumstände kümmern. Es geht um mehr als Löhne und Arbeitsbedingungen, es geht um Lebensbedingungen, deshalb müssen Kämpfe am Arbeitsplatz mit denen auf der Straße verbunden werden.

Öffnung für Prekäre

Für eine so verstandene Gewerkschaftsbewegung wird es eine Selbstverständlichkeit, sich als einen - keinesfalls dominierenden! - Bestandteil der sozialen Bewegungen zu begreifen und in von Fall zu Fall verschiedenen Allianzen politisch zu agieren. Sie muss sich dabei wieder als progressive Kraft begreifen und gesellschaftliche Utopien entwickeln. Dies setzt aber schließlich voraus, dass sie auch andere Prioritäten in der Bildungsarbeit setzt. Anstatt wie augenblicklich auch die gewerkschaftliche Bildungsarbeit an den "Trend der Zeit" anzupassen, sollte sie keine Kosten scheuen, um diesem Trend entgegenzuwirken - kostenfrei auch für Gewerkschaftsmitglieder ohne Funktionen oder Nichtmitglieder. Denn die bildungspolitische Passivität der Gewerkschaften in gesellschaftspolitischen Fragen sollte nicht zuletzt in diesem Sommer als Ausrede herhalten, um nicht mehr gegen den aktuellen Sozialraub zu mobilisieren. Eine sinnvolle Investition in diesem Gebiet wäre nicht die Schließung von Bildungseinrichtungen, sondern echte Überzeugungs- und Bildungsarbeit für breite Massen - gegen den herrschenden Konsens der angeblichen Sachzwänge und Naturgesetzmäßigkeiten des Kapitalismus.
Es geht um einen radikalen Abschied von der deutschen Integrations- und Mitbestimmungskultur, die als Erfolgsmodell vielen Gewerkschaften weltweit als Vorbild verkauft wird. Um Abschied von einer Gewerkschaft als Ordnungsfaktor und institutionalisierte Interessenvertretung. Eine solche lebendige Gewerkschaftsbewegung wäre mühelos in der Lage, die bestehenden Gewerkschaften zu ändern oder neue, bessere Organisationsformen zu finden. Hierfür gibt es unterschiedliche Ansätze: In Frankreich und Spanien gibt es gewerkschaftliche Neugründungen, die dezentral und basisdemokratisch, unter bewuss-tem Verzicht auf bezahlte Funktionärinnen arbeiten. In Italien und zunehmend in Großbritannien lösen sich Gewerkschaften von ihren Parteianbindungen und agieren selbstständig als politische Kraft. Weltweit arbeiten immer mehr Basisgewerkschaften eng mit sozialen Bewegungen zusammen. Den aktuellen Herausforderungen und - noch wichtiger - der Überwindung dieses unmenschlichen Wirtschaftssystems zum Besseren kann sich eine Gewerkschaftsbewegung nur als Teil der sozialen Bewegungen weltweit stellen.
Aber: Um die Fragen humanerer Arbeitsbedingungen und einer sinnvollen Produktion müssen sich auch diese kümmern, wenn wir einst gemeinsam auf unseren Erfolg anstoßen wollen.

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